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Prozessanalysentechnik: Kernstück von „Industrie 4.0“?

Teil der Revolution

Ohne die vielfältigen Messmethoden der Prozess­analysentechnik (PAT) sind viele moderne Anlagen der verfahrenstechnischen Industrie heute nicht mehr wirtschaftlich oder sicher zu betreiben. Dementsprechend ­erfährt die sich mittlerweile immer mehr als selbstständig etablierende Branche Prozessanalysentechnik einen großen Zuwachs und ­eine ­spannende Dynamik. Sie ermög­licht eine Produktion in der geforderten Produktqualität unter optimaler Ausnutzung von Rohstoffen, Anlagen und Energie.

Die echtzeitorientierte Erfassung von quantitativen und qualitativen Substanzeigenschaften, Konzen­trationen und Zusammensetzungen im Prozess ermöglicht die Überwachung von Rohstoffen sowie Zwischen- und Endprodukten und bietet damit bei entsprechender Einbindung in Steuer- und Regelkreise automatisierter Prozesse eine betriebs­wirtschaftlich optimierte und zielqualitätsorientierte Produktion. Der konsequente Einsatz der Prozessanalysentechnik verändert Arbeitsinhalte, Prozesse und Produktionsumgebungen und hat damit die Chance, Kernstück der vierten indus­triellen Revolution zu sein – wie im Zukunftsprojekt „Industrie 4.0“ angestrebt. PAT als Bestandteil von Cyber Physical Production Systems (CPPS) in der produzierenden Industrie befähigt zur durch­gängigen Analyse von Produkt, Produk­tionsmittel und Produktionssystemen unter Berück­sichtigung der sich ständig wandelnden ­Produkte sowie der zukünftig zunehmend schwankenden Rohstoff­eigenschaften.

100 Jahre Prozessanalysentechnik

Der Arbeitskreis Prozessanalytik, getragen von der DECHEMA und der GDCh, führt regelmäßig Wissenschaftler, Anwender und Gerätehersteller zu einem interdisziplinären Austausch auf Fach- und Organisa­tionsebene zusammen. Den Höhepunkt bildet dabei das jährlich ausgerichtete Kolloquium des Arbeitskreises, das 2013 mit dem Schwerpunkt „Prozessanalytik in der Produktion“ gleichzeitig die zentrale Veranstaltung zum Jubiläumsjahr „100 Jahre Prozessanalysentechnik“ gewesen ist.

Das kommende 10. Kolloquium, das am 25. und 26.11.2014 in Gerlingen stattfinden wird, widmet sich dem Themenschwerpunkt „Prozessanalytik in der Biotechno­logie“. Die Biotechnologie wandelt sich zu einer Disziplin, die in der Lage ist, bio­logische Produktionssysteme gezielt zu kons­truieren und maßgeschneiderte Produkte und Therapeutika herzustellen. Die Voraussetzungen dafür ergeben sich u.a. aus den technischen Möglichkeiten der ­Bioprozessanalytik. Beispielsweise müssen für die Regelung eines biotechnologischen Prozesses die Zusammensetzung des Mediums und der darin enthaltenen Gase und Zellen bzw. Zellverbände kontinuierlich erfasst werden. Für die meisten biotechnologischen Prozesse ist aber heute noch kein ausreichendes mechanistisches Modellverständnis vorhanden und/oder eine direkte Messung der Zielproteine möglich. Daher müssen Lösungswege gefunden werden, um die Prozesse indirekt und mittels ­einer Kombination von Variablen zu steuern.


Prozessanalytik entlang der Wertschöpfungskette in der Prozessindustrie. Die heute akzeptierte Spezifikation eines Produkts beschreibt dessen Qualität weniger gut als ein ganzheitliches Verständnis hinsichtlich der Anwendungseigenschaften aus der Kenntnis der Produktionshistorie.

„Enabling Technology“

Unser Standort Deutschland verfügt über einen beträchtlichen Wissens- und Technologievorsprung, und zwar sowohl in der Forschung an Hochschulen und Univer­sitäten als auch bei den Messgeräteherstellern. Diese machen den exzellenten wissenschaftlichen Output und ihre lang akkumulierte technische Erfahrung den Anwendern für deren bestehende und zukünftige Mess­aufgaben zugänglich. Die Prozessanalytik ist als „Enabling Techno­logy“ darum gleich in doppel­ter Hinsicht ein Schlüssel zur langfristigen und nachhaltigen Bewahrung von Standortvorteilen: Einerseits ermöglicht sie der produzierenden Industrie die sichere und effiziente Herstellung inter­national wettbewerbsfähiger Produkte. Andererseits bietet sie aber auch einer gerade neu entstehenden Messtechnikbranche die Möglichkeit, produk­tionstechnisches Know-how in Form von Mess- und Regeltechnik weltweit zu exportieren. Wenn damit die Kultur der Pro­zessintensivierung weiter vorangetrieben wird, lässt sich der Wert unserer Produktions­verfahren sogar noch massiv verbessern. Viele chemische Prozesse werden heute nicht vollständig automatisch gesteuert, son­dern von technischen Mitarbeitern mit jahrzehntelanger anlagenspezifischer Erfahrung. Produktions- und Rezepturdaten werden vielfach noch nicht elektronisch erfasst, um Produktions- und Qualitätsparameter miteinander im Sinne von „Quality by Design“ in Verbindung zu bringen. Vor dem Hintergrund eines bevorstehenden demografischen Wandels, dem sich die chemische Industrie aktuell gegenübergestellt sieht, gelingt ein Gegensteuern insbesondere durch Verfahren der Mess- und Automatisierungstechnik mit eingebauten „Qualitätsregelkreisen“.

Kernstück von „Industrie 4.0“

Das Zukunftsprojekt „Industrie 4.0“ verfolgt ein hochgestecktes Ziel: Die vierte industrielle Revolution soll die klassischen Produktionsverfahren der Prozessindustrie neu ausrichten. Die ersten drei wurden durch die Mechanisierung (Webstuhl), die Massenproduktion (Ford) und den Einsatz von Computern erreicht. Industrie 4.0 wird eines Tages die starke Individualisierung der Produkte für die Kunden ohne Einschränkungen der Produktqualität bewäl­tigen. Gleichzeitig eröffnen sich weitere ­Per­spektiven wie z.B. Ressourcen- und ­Energieeffizienz, urbane Produktion, Bewältigung des demografischen Wandels, Begegnung des Fachkräftemangels oder Verbesserung der Work-Life-Balance. Unter­nehmen der Fertigungs- und Prozessindus­trie werden mit Industrie 4.0 zukünftig ihre Produktionsanlagen, Maschinen, Lagersys­teme und Betriebsmittel als Cyber-Physical Systems (CPS) weltweit vernetzen. Das sind intelligente Maschinen und Betriebsmittel, die autonom Informationen austauschen, Aktionen auslösen und sich gegenseitig selbst­ständig steuern. Dazu gehört eine ver­änderte Produktionslogistik („Smart Factory“) und -hierarchie, die auch Auswirkungen auf die so genannte Automatisierungspyramide haben werden [1]. Die intelligenten Produkte sind eindeutig identifizierbar, jederzeit lokalisierbar und kennen ihre His­torie, ihren aktuellen Zustand sowie alterna­tive Wege zum Zielzustand. Die Pro­duktion wird damit durchgängig transparent und ermöglicht optimale Entscheidungen. Produktionssysteme sind vertikal mit betriebswirtschaftlichen Prozessen vernetzt und horizontal zu verteilten sowie in Echtzeit steuer­baren Wertschöpfungsnetzwerken verknüpft.

Zukunftsvision ­„Continuous ­Manufacturing“ durch „Pharma 4.0“

Im historischen Rückblick haben sich fast ausnahmslos alle Zweige der Produktion konsequent hin zu einer kontinuierlichen Produktion gewandelt. In der pharmazeutischen Industrie ist eine kontinuierliche Produktion heute noch nicht üblich, zum einen wegen der strengen Sicherheitsauf­lagen, zum anderen vor dem Hintergrund der tradierten und wirtschaftlicheren Batch-Produktion. Will die pharmazeutische Industrie eines Tages zur kontinuierlichen Produktion („Continuous Manufacturing“) übergehen, um den Weg eines Arzneimittels zum Patienten flexibler und schneller als je zuvor zu gestalten – bis hin zu einer in­di­vidualisierten Medizin, um die Chancen ­einer 100%-Kontrolle zu nutzen und die Sicher­heit von Arzneimitteln dadurch noch weiter zu erhöhen, um Freigaben von ­kleineren Produktionsanlagen anstelle eines großen Batches zu realisieren, die zu sicheren Produkten führen und um vermehrt Kleinanlagen zu nutzen sowie bedarfsgerecht und flexibler auf weltweit bestehende Produktionsanlagen zu transferieren und damit näher an den Abnehmer zu bringen?

Der konsequente Einsatz von Real Time Release (RTR) ist eine der wesentlichen ­Voraussetzungen für diese Schritte. Hier wird die Qualität des finalen Produktes ausschließ­lich aus In-Prozess-Kontrollen oder Prozess­daten abgeleitet. Mithilfe von validierten prozessanalytischen Methoden lassen sich kritische Materialeigenschaften direkt oder indirekt messen und Prozesse kontrollieren. Für jede produzierte Charge lässt sich die Konformität zu akzeptierten Qualitätsmerkmalen aufzeigen und sich diese damit ohne weitere Endkontrolle freigeben. Mit einem auf diese Weise durch PAT gestalteten Quali­tätssicherungssystem kann die Variabilität der qualitätsrelevanten Einflüsse wie schwan­kende Eigenschaften von Ausgangs- und Zwischenprodukten, Produktionsapparaten oder Umgebungsbedingungen optimal abgefangen werden, was – auch in einem GMP-regulierten Umfeld – variable, qualitäts­korrelierte und automatisierte Steuerungen erlaubt.

Literatur

[1] Dr. Thorsten Pötter, Bayer Technology Services, Vortrag auf der NAMUR-Hauptsitzung, November 2013

Foto: © istockphoto.com| Filograph

Stichwörter:
Messtechnikbranche, Ressourcen- und ­Energieeffizienz,

C&M 4 / 2014

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