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C&M-6-2015 > Die verfahrenstechnische Anlage in der ganzheitlichen Betrachtung

Die verfahrenstechnische Anlage in der ganzheitlichen Betrachtung

Fähigkeiten und Innovationskraft

Verfahrenstechnische Anlagen sind der Kern chemischer Produk­tionsprozesse. Angesichts eines boomenden Chemieanlagenbaus mit Trend zu Großprojekten, eines internationalen Wettbewerbs sowie eines Industrie 4.0-bedingten industriellen Wandels sieht sich der ­europäische Anlagenbau vor großen Herausforderungen und Chancen. Diesen begegnet die VDI-Gesellschaft für Verfahrenstechnik und ­Chemieingenieurwesen (VDI-GVC) mit gebündelten Kompetenzen.

Herr Dr. Kussi, 2013 wurde die VDI-GVC neu strukturiert und in drei Fachbereiche untergliedert. Warum gab es die Aufteilung in GVC01 („Verfahrenstechnische Prozesse“) und GVC02 („Verfahrenstechnische Anlagen“) – neben dem neu gegründeten Fach­bereich GVC03 („Betrieb verfahrenstechnischer Anlagen“)?

Seit einigen Jahren bündeln VDI-GVC und DECHEMA ihre Kompetenzen in der Verfahrenstechnik unter dem Dach ProcessNet, um Synergien in einem thematisch breit aufgestellten Netzwerk nutzbar zu machen. Insbesondere Innovationsprozesse, die in einem größeren Zusammenhang stehen und im Verbund von Wissenschaftlern an Hochschulen und gemeinsam agierenden Partnern unterschiedlichster Industriefirmen bearbeitet werden, lassen sich so stärken. Als Beispiel sei hier das vom BMWi geförderte Projekt ENPRO (Energieeffizienz und Prozessbeschleunigung) erwähnt, in dem sowohl die Modularisierung für mehrere konkrete Anwendungsfälle als auch die Effizienzsteigerung unsere Arbeitsprozesse bei der Entwicklung aus Labor und Technikum hin zur industriellen Produktionsanlage – z.B. durch intensivere Datenintegration – untersucht wird.

VDI-GVC hat mit seiner Neuausrichtung auf verfahrenstechnische Prozesse einerseits und verfahrenstechnische Anlagen andererseits klare Akzente der Fokussierung gesetzt, was mit den beiden weiteren Themenschwerpunkten Betrieb (GVC03) sowie der Nachwuchsförderung über das Netzwerk der kreativen jungen Verfahrensingenieure (kjVI) meiner Meinung nach auch sehr gut gelungen ist.

Oft werden Prozess und Anlage eher fließend und sehr überlappend verstanden. Beim Prozess geht es um das genaue Verständnis der Vorgänge in Apparat oder Maschine. Chemische und physikalische Zusammenhänge, aber auch die mechanische Auslegung unter Berücksich­tigung örtlicher Gegebenheiten müssen hier berücksichtigt werden. Im Zusammenspiel der Komponenten entsteht der verfahrenstechnische Prozess.

Bei der Anlage geht es um die ganzheitliche Betrachtung der verfahrenstechnischen Prozesse hin zu einer anlagentechnischen Realisierung. Der Lebenszyklus der Anlage von Planung und Bau über den laufenden Produktionsprozess bis hin zur Instandhaltung steht hier im Mittelpunkt. Dazu gehört mit besonderem Schwerpunkt auch das für Mensch und Umwelt sichere Betreiben der Anlagen. Eine ganzheitliche, disziplinübergreifende Betrachtungsweise steht inhaltlich wie methodisch im Vordergrund.

Der Vorsitz in einem Fachbereich einer VDI-Gesellschaft ist ein ­Ehrenamt. Welche Aufgaben haben Sie im GVC02 „Verfahrenstechnische Anlagen“? Sind Sie hier als Berater tätig?

Nein, als Berater sehe ich mich nicht, eher als Moderator, Kommunikator und Antreiber. Der Erfolg unserer Arbeit beruht nicht zuletzt auf einem umfassenden Erfahrungsaustausch. Die VDI-GVC mit ihren Fachbereichen und natürlich insbesondere den Arbeitskreisen fördert deswegen die Kommunikation zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und öffentlichen Institutionen auf dem jeweiligen Fachgebiet. Nur wenn der technisch-wissenschaftliche Austausch zwischen Industrie, Forschungseinrichtungen und anderen Beteiligten funktioniert, kann sich der Industriestandort Deutschland erfolgreich dem globalen Wettbewerb stellen.

Wie lassen sich Wissenslücken aufdecken, die die Lösung technischer Probleme behindern?

Eigentlich kennen wir diese Lücken und Probleme schon seit Jahren. Wir müssen nur ehrlich genug sein, sie wirklich wahrzunehmen und schließen bzw. lösen zu wollen. In den letzten Jahren hat es Entwicklungen gegeben, die in die Prozessindustrie nur schwer Eingang finden. Industrie 4.0 ist für mich so ein Beispiel. Natürlich ist durch die lange Lebensdauer einer Anlage eine relativ hohe Hemmschwelle für neue Investitionen gegeben. Aber das Erkennen und Nutzen von Chancen müsste gegenüber der Angst vor den Risiken gestärkt werden. Sie merken, es sind weniger die technischen Details, die für mich hier entscheidend sind, da vertraue ich auf unsere Fähigkeiten und unsere Innovationskraft, Probleme lösen zu können. Es ist oft das kurzfristige betriebswirtschaftliche Denken, das uns hier behindert.

Welche spezifischen Aufgaben und systemtechnischen Methoden gibt es zur Verfahrensentwicklung und -optimierung?

Industrie 4.0 ist für mich hier das Stichwort. Dahinter verbirgt sich der Austausch bereits verfügbarer Daten und Informationen mit anderen am Lebenszyklus unserer Anlagen Beteiligten. Das klingt schön, und wenn wir auf unsere Smartphones schauen, sehen wir auch, dass es funktionieren kann. Aber unsere Prozess- und Anlagendokumentation ist hier sehr oft noch recht papierorientiert, selbst wenn es sich um elektronisches Papier wie ein PDF handeln mag. Das nur gering ausgeprägte Denken in Systemen und größeren Workflows ist eine Herausforderung, die es zu lösen gilt. Standardisierung und standardisierte Dokumentation waren ein wichtiger Erfolgsfaktor, der in den letzten Jahren oft als zu aufwendig und teuer empfunden wurde. Datenintegration, die für mich als Basisgedanke hinter Industrie 4.0 steht, erfordert aber deutlich standardisiertere Beschreibungen und Methoden. Im von mir bereits erwähnten Projekt ENPRO haben wir deshalb hier einen besonderen Schwerpunkt gesetzt.

Welche Tipps zur Planung, zum Bau, zum Betrieb, zur Führung sowie zur Wartung von Anlagen geben Sie häufig?

Der wichtigste Tipp, den ich in den letzten Jahren immer wieder gegeben habe: Nachdenken, bevor man eine Aufgabe beginnt. Sich die Zusammenhänge klar machen und nicht blind den scheinbar vorgegebenen Lösungsvorschlägen folgen. Den Spruch „Fang schon mal an“ sollte man mit dem Weglegen des Bleistiftes beantworten. Nach meiner Erfahrung führt das zu schnelle Starten und Voranschreiten in der Regel nur zu Doppelarbeit mit zusätzlichem Zeit- und Kostenaufwand.

Der zweite Tipp, den ich geben möchte, ist, sich immer Chance und Risiko bewusst zu machen und hierbei insbesondere auf die Chancen, die in einer Veränderung liegen, klar zu blicken.

Der dritte Punkt ist eher ein Impuls. Jeder Leser sollte sich fragen: Was bedeutet Industrie 4.0 für mich in meinem Tages­geschäft? Welche Chancen, auch mittel- und langfristig, liegen hier für mich. Und bitte die Killerargumente – „das geht bei uns nicht“ – „das ist zu teuer“ nicht benutzen.

Sie sind ein wichtiger Ansprechpartner für die kreativen jungen Verfahrensingenieure (kjVI) der VDI-GVC. Welche Aufgaben nehmen Sie in diesem Bereich wahr?

Das ist die Moderation des ChemCar-Wettbewerbs und die Unterstützung der Position der kjVI in den Gremien. Ich möchte hier nochmals die Bedeutung der kjVI für die VDI-GVC und ProcessNet herausstellen. Ich leiste diese Gremienarbeit aus tiefster Überzeugung – diese Idee, an junge und z.T. noch in der Ausbildung befindliche Kolleginnen und Kollegen Wissen weiterzugeben, ist mir wichtig. Ich möchte Motivation geben für langfristige Mitarbeit in den Gremien.

Herr Dr. Kussi, dabei wünschen wir Ihnen viel Erfolg!
Herzlichen Dank für das Gespräch!

(Interview: Claudia Schiller und Carmen Klein)

C&M 6 / 2015

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe C&M 6 / 2015.
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