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Aktuelle Herausforderungen in der Verfahrenstechnik

Aktuelle Herausforderungen in der Verfahrenstechnik

Verantwortung im Fokus

Der verantwortungsvolle Umgang mit Ressourcen gewinnt immer mehr an Bedeutung und muss gerade auch bei der Entwicklung neuer Verfahren und Prozesse vorangetrieben werden. Rohstoff- und Energieeffizienz stehen daher im Hauptfokus verfahrenstechnischer Prozesse. Dr.-Ing. Claas-Jürgen Klasen, Vorsitzender der VDI-Gesellschaft Verfahrenstechnik und Chemie­ingenieurwesen (VDI-GVC), erläutert im Interview, wie man auf nationaler und internationaler Ebene diesen gewaltigen Heraus­forderungen begegnet.

Seit 1. Januar 2014 sind Sie Vorsitzender der VDI-GVC. Vor dem Hintergrund Ihrer langjährigen internationalen Erfahrungen: Wohin bzw. worauf richten Sie im Moment Ihren Hauptfokus?

Die Verfahrenstechnik ist in meinen Augen eine entscheidende Disziplin für den wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand, aber vor allem auch für den verantwortungsvollen Umgang mit limitier­ten Ressourcen und die zukünftige Gestaltung der Welt, in der wir leben. Gerade in Deutschland haben wir in dieser Disziplin ein sehr hohes Ausbildungsniveau erreicht und umfassendes Fachwissen angesammelt. An zahlreichen Universitäten, Hochschulen und in Forschungs­einrichtungen werden zielgerichtet Schwerpunktthemen vorangetrieben. Diese gilt es, bedarfsorien­tiert zu strukturieren, zu priorisieren, gleichzeitig zu vernetzen – aber vor allem auch industriell umzusetzen. Dies betreibt die VDI-Gesellschaft Verfahrenstechnik und Chemieingenieurwesen (GVC) zusammen mit der DECHEMA in unserer gemeinsamen Initiative ProcessNet. Dazu haben wir in der GVC im Herbst 2013 die drei Fach­bereiche „Verfahrenstechnische Prozesse“, „Verfahrenstechnische Anlagen“ und „Betrieb verfahrenstechnischer Anlagen“ gegründet. Die wissenschaftlichen Arbeiten der Fachbereiche „Prozesse“ sowie „Anlagen“ erfolgen überwiegend in ProcessNet, um Synergien zu heben und entsprechende Fachkompetenzen zielgerichtet zu nutzen. Der dritte Fachbereich bietet den Ingenieuren in der chemischen Produktion eine fachliche Heimat und stellt einen Hauptfokus der derzeitigen VDI-GVC Arbeit dar. Die Umsetzung aller verfahrenstechnischen Arbeiten mündet in der Produk­tion und liegt in der Verantwortung der Mitarbeiter in der Produktion. Zur Stärkung des Produktions­standorts Deutschland haben wir deshalb deutschlandweit VDI-Regionalgruppen an den großen Chemiezentren etabliert, die vor allem den Betriebsingenieuren der chemischen Industrie und Petrochemie als den Garanten für einen reibungslosen Anlagenbetrieb ein Netzwerk und eine Informationsplattform bieten. Hier erfolgt ein offener Austausch mit dem Ziel, über Firmengrenzen und Funktionen hinweg aus Best-Practice-Beispielen zu lernen und neue Entwicklungen vorzustellen.

Ein zweites Thema, das mir sehr wichtig ist, besteht darin, den Stellenwert und die Bedeutung der Verfahrenstechnik in der allgemeinen Öffentlichkeit stärker herauszustellen. Die chemische Industrie ist eine der stärksten Industriezweige Deutschlands und der Welt. Die damit eng verbundene Verfahrenstechnik birgt das Potenzial – zum Beispiel durch optimierte Prozesse –, einen wichtigen Beitrag zur Ressourceneffizienz und zur Innovationsfähigkeit der industriellen Produktion zu leisten. Die Bedeutung und Potenziale der Verfahrenstechnik sind vielen nicht bekannt und aufgrund der fachlichen Breite und Vielfalt nicht einfach darzustellen. Dies wird jedoch immer wichtiger insbesondere vor dem Hintergrund der Forderung, ausreichend junge Menschen für dieses so wichtige und verantwortungsvolle Aufgabenfeld zu begeistern und gleichzeitig das damit verbundene Ausbildungsniveau in unseren Hochschulen aufrechtzuerhalten. Dies ist ein ganz eindeutiger Wettbewerbsvorteil in Deutschland.

Über 152.000 Ingenieure sind in zwölf Fach­gesellschaften des VDI organisiert, dazu gehören z.B. die VDI-Gesellschaft für Mess- und Auto­matisierungstechnik (VDI-GMA), für Energie und Umwelt (VDI-GEU), für Materials Engineering (VDI-GME). Auch hier besteht das Ziel, den fachlichen Austausch über die Grenzen der Fachgesellschaften hinaus zu intensivieren und damit Lösungs­ansätze aus neuen Blickwinkeln zu sehen und anzugehen.

Vor welchen aktuellen Herausforderungen steht die Verfahrenstechnik?

Entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg neuer Produkte ist heute insbesondere die Geschwindigkeit der Markteinführung. Hier kann die Verfahrenstechnik für die Zukunft einen entscheidenden Beitrag liefern, diese Geschwindigkeit zu erhöhen, indem sie frühzeitig die entscheidenden Verfahrensschritte adressiert und entlang der gesamten Prozesskette die Entwicklungszeit verkürzt, ohne dabei das Umsetzungsrisiko zu vernachlässigen. Im Bereich der Spezialchemie mit kleineren Mengen oftmals hochreiner Produkte spielen verstärkt modular aufgebaute Kleinanlagen und mobile Anlagen z.B. in Containern eine zunehmende Rolle. Neu sind hier die Fragestellung des Down-Scalings und die Entwicklung produktionstauglicher Kleinaggregate.
Innovationen eröffnen sich an Schnittstellen wie Chemie, Biologie, Physik, Energie- oder Medizintechnik. Hier stellt die Verfahrenstechnik eine Brückenfunktion dar, die es ermöglicht, die (physikalischen) Grundlagen und Strukturen zu verstehen, um disziplinübergreifend Lösungsansätze zu finden. Dies darf in der Ausbildung unserer (Verfahrens-)Ingenieure nicht vernachlässigt werden.

Steigende Renditeanforderungen bei gleichzeitig zunehmend volatilen Märkten sind die Herausforderung an flexible Anlagen und Betriebsweisen. Viele Produktions­anlagen werden auf Volllast optimiert, verlieren im Teillastbetrieb aber überpropor­tional an Wirtschaftlichkeit. Hierfür gilt es, neue verfahrenstechnische Konzepte zu entwickeln und umzusetzen. In der engen Verzahnung der Kundenanforderungen mit den Marktgegebenheiten einerseits sowie mit der jeweiligen technischen Ausführung andererseits liegen immer noch große Optimierungspotenziale. Diese können in den Unternehmen nur durch verbesserte Koordination zwischen der kaufmännischen und der technischen Seite gehoben werden. Die technisch beste Lösung ist oftmals nicht die wirtschaftlichste.

Der Einsatz natürlicher Rohstoffe und ein marktorientierter Rohstoffeinkauf oder das Recycling aus verschiedenen Quellen erfordern ebenfalls Flexibilität und robuste Prozesse. Diese können nur entwickelt werden, wenn ausreichende verfahrenstechnische Grundkenntnisse vorhanden sind, die natürlich rechtzeitig vor dem Erstellen eines Anlagenkonzeptes vorliegen müssen.

Die stoffumwandelnde Industrie tat sich in den letzten Jahren mit bahnbrechenden ­Innovationen schwer. Hier gilt es, zukunftsweisende Technologien zu identifizieren und zielgerichtet einzusetzen. Beispiele hierfür sind die Bioverfahrenstechnik, Elektrochemie, Membrantechnologie oder auch Plasmatechnologien.

Welche Trends zeichnen sich auf nationaler und auf internationaler Ebene ab?

Die Verfügbarkeit von Rohstoffen hat bereits einen entscheidenden Einfluss auf die Standortwahl von Produktionsanlagen. In der Regel machen die Rohstoffkosten vieler Produkte weit mehr als 50% der Herstellkosten aus. Das sieht man derzeit z.B. beim Thema Schiefergas, das einen sehr positiven Einfluss auf die amerikanische Wirtschaft hat. Dies wird selbstverständlich auch die Verfahren beeinflussen. Ein Trend zur Umstellung auf gasbasierte Prozesse ist bereits zu verzeichnen – dies mit einem deutlichen Wettbewerbsvorteil gegenüber den herkömmlichen erdölbasierten Verfahren. In Europa wird die Verfahrenstechnik weiterhin entscheidende Beiträge zum Thema Rohstoff- und Energieeffizienz leisten. In Asien erwarte ich verstärkte Aktivitäten in den Bereichen Umweltschutz und Prozesssicherheit.

Darüber hinaus werden durch die steigende Bedeutung nachhaltiger Rohstoffe und Prozesse sowie den immensen Fortschritt in der Biotechnologie, die Nutzung nachwachsender Rohstoffe und die Umsetzung biotechnologischer Verfahren mit ­ihren besonderen Anforderungen an Robustheit und Schwankungstoleranz zunehmende Herausforderungen an verfahrenstechnische Prozesse gestellt.

Im Zeitalter von Industrie 4.0 wird derjenige Vorteile haben, der es versteht, die richtigen Informationen effizient zu nutzen und zu verarbeiten. Das gilt sowohl bei der Entwicklung von neuen Produkten und Verfahren als auch in der Prozessführung. Hier gilt es, die richtigen Prozessdaten, häufig auch mittels moderner Methoden der Prozessanalystentechnik, zur Verfügung zu stellen, die dann mit Advanced Process Control weiterverarbeitet werden, um die Prozesse möglichst nahe am wirtschaftlichen Optimum zu betreiben.

Wie wird aus Ihrer Sicht die Chemieanlage der Zukunft aussehen?

Die Automatisierungstechnik wird zunehmend die chemische Industrie beeinflussen. Große kontinuierliche Anlagen werden mit Advanced Process Control kostenoptimal betrieben und in der Spezialchemie werden hochautomatisierte Kleinanlagen die Batchprozesse mehr und mehr ablösen und bei Bedarf auch als nahezu Remote-Anlagen beim Kunden oder „over the fence“ betrieben.

In den Anlagen werden immer weniger Menschen zu sehen sein. Hierbei ist allerdings darauf zu achten, dass das Betreiber-Know-how nicht verloren geht, denn dies wird benötigt, wenn der Autopilot einmal ausfallen sollte. Moderne Werkzeuge wie die Virtual-Plant-Simulatoren ermöglichen es, das Ausbildungsniveau aufrechtzuerhalten und manuelle „Notlandungen“ sicher zu üben.

Die POWTECH steht vor der Tür. Mit welchen Erwartungen sehen Sie dem „Stelldichein“ der Pulver-, Granulat- und Schüttgut-Technologien entgegen, besonders im Hinblick auf Trends und Neuentwicklungen in der mechanischen Verfahrenstechnik?

Gerade im Bereich der mechanischen Verfahrenstechnik – ich bezeichne diese gern als dreidimensionale Verfahrenstechnik – sind viele Grundoperationen eines Produktionsprozesses immer noch mit dem Namen des jeweiligen Herstellers verbunden. Man findet den „Hersteller A – Mischer“ und den „Hersteller B – Trockner“. Die Produkteigenschaft ist direkt an einen Apparat gekoppelt. ­Dies zeigt mir, dass an der einen oder anderen Stelle das jeweilige physikalische Grundverständnis fehlt und damit auch die Entwicklung von neuen und die Weiterentwicklung bestehender Produkte langsam und aufwendig macht.

Auf der POWTECH findet man aber auch immer wieder echte ­Innovationen und neue pfiffige Lösungen, vor allem von den ­Firmen, die noch eine ausreichende Anzahl an guten Verfahrensingenieuren beschäftigen. Auf diese Gespräche freue ich mich.

Zum Schluss eine fast „persönliche“ Frage: Was ist für Sie das
Faszinierendste an der Verfahrenstechnik?

Die Breite der Verfahrenstechnik und damit die zahlreichen Anknüpfungspunkte zu anderen Fachdisziplinen lassen mich jeden Tag etwas Neues entdecken und lernen. Verfahrenstechnisches Wissen macht es möglich, technische Risiken als Grundlage jeder Neu- und Weiterentwicklung kalkulierbar zu machen und damit sichere, nachhaltige und wirtschaftliche Produktionsverfahren zu entwickeln. Modernes Leben ohne Verfahrenstechnik ist für mich nicht vorstellbar.

Wir bedanken uns herzlich für das Gespräch.

(Interview: Claudia Schiller und Dr. Johannes Jochum)
Foto: © istockphoto.com| alexis84

Stichwörter:
Ressourcen, Verfahrenstechnik, Renditeanforderungen, Recycling, Bioverfahrenstechnik, Elektrochemie, Membrantechnologie, Plasmatechnologien,

C&M 4 / 2014

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe C&M 4 / 2014.
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