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Zukunft der Produktionsarbeit – im Internet der Dinge entscheiden Objekte und Menschen kooperativ

Intelligent vernetzt

Die vierte industrielle Revolution klopft an die Tür. Die intelligente Vernetzung von mechatronischen Steuerungen mit dem Internet wird Prozesse tief greifend ­verändern: Aufträge reservieren Kapazitäten, Teile steuern ihren Transport, Anlagen organisieren ihre Wartung. Auch menschliche Arbeit wird sich der neuen ­Dynamik anpassen müssen.

Nach Mechanisierung, Industrialisierung und Automatisierung steht die vierte industrielle Revolution für die Verbindung der virtuellen Cyberwelt mit der realen, physischen Welt zu einem Internet der Dinge, Daten und Dienste (siehe Abb. 1). Die Treiber der vierten industriellen Revolution sind cyber-physische Systeme (CPS). Sie erfassen über Sensoren Daten der realen Welt, verarbeiten diese mit Software aus eingebetteten Steuerungen, bedienen sich des Internets und des Cloud Computings zur gegenseitigen Kommunikation und wirken mithilfe von mechatronischen ­Aktuatoren wiederum auf die reale Welt ein. Erste Anwendungsfelder bestehen ­unter anderem in der Robotik, der Fahrzeugnavigation, der medizinischen Versorgung oder der Energieverteilung [1]. Mittlerweile werden CPS als eine neue Schlüsseltechnologie angesehen. Um ein erfolgreicher Produktionsstandort zu bleiben, wird es für Deutschland entscheidend sein, autonome, ­selbst­steuernde, wissensbasierte und sensor­gestützte Produktionssysteme zu entwickeln, zu vermarkten und zu betreiben [2].

Anwendungen und Auswirkungen

Die Liste denkbarer Anwendungen von CPS in der industriellen Produktion ist vielfältig [3, 4, 5]. Mobile, echtzeitfähige Assistenz­systeme mit einer kontextsensitiven Informationsbereitstellung kontrollieren und überwachen permanent laufende Prozesse. Selbstorganisierende, vernetzte Produktions­anlagen ­erkennen und konfigurieren ihre Komponenten und Werkzeuge. Über das Internet erfragen sie selbstständig benötigte Prozess­parameter vom Hersteller oder von vergleichbaren Anlagen bei anderen Anwendern. ­Dezentrale lokale Gedächtnisse in Pro­duktions­einrichtungen oder Produkten sammeln, speichern, bewerten und verteilen detaillierte Informationen über die Produkt­entstehung und die Produktionsprozesse. Die Daten dienen z.B. dem Energiemanagement, dem Lebenszykluscontrolling oder der vorbeugenden Instandhaltung. Selbststeuernde logistische Prozesse und Produktionsaufträge planen über die gesamte Wertschöpfungskette ihre Bearbeitungsschritte, reservieren die benötigten Materialien und belegen Anlagenkapazitäten. Im Falle absehbarer Verzögerungen organisieren sie zusätzliche Kapazitäten und ­melden dem Auftraggeber unvermeidbare Abweichungen.

Diese Beispiele zeigen, dass ein Paradigmenwechsel von zentralen Steuerungen hin zu einer dezentralen Koordination von selbststeuernden Abläufen und autonomen Prozessen erwartet wird.


Abb. 1 An der Schwelle zur vierten industriellen Revolution
(Quelle: DFKI)


Abb. 2 Einsatzformen von CPS
Quelle: H. Buck, IAO


Abb. 3 Menschen und vernetzte Objekte entscheiden kooperativ
Quelle: IAO

Stellung der arbeitenden Menschen

Dabei ist keineswegs ausgemacht, dass ­Maschinen die alleinige Kontrolle übernehmen. Arbeitssoziologische Studien zeigen, dass Anwendungen des Internets der Dinge sich sowohl in Richtung eines Automatisierungsszenarios als auch eines Werkzeugszenarios entwickeln [6]. In einem Auto­matisierungs­szenario bestimmt die ma­schinell-algorithmische Steuerung die Tätig­­keiten des Menschen. Seine dementsprechenden Kompetenz­­anforderungen sind gering. In einem Werkzeugszenario verbleibt die Entscheidung bei den mit entsprechenden Kompetenzen ausgestatteten Menschen. Die Informationstechnik wirkt lediglich assistierend (siehe Abb. 2). ­Bemerkenswert an obiger Aussage ist das Sowohl-als-auch. Mitarbeiter werden zukünftig eine Mischung aus beiden Anwendungsformen nutzen. Die Kontrolle von standardisierten Routineaufgaben wird in Automatisierungsszenarios auf die CPS-Steuerungen übertragen. Dagegen verbleiben komplexe und erfahrungsbasierte Entscheidungen beim Menschen, der für die schnelle und sichere Entscheidungsfindung über echtzeitfähige CPS-Assistenten verfügen wird.

Dabei besteht Einigkeit, dass die zur Produktionssteuerung unvermeidlichen komplexen Entscheidungen sich auf absehbare Zeit nicht komplett auf Maschinen übertragen lassen. Auch die autonome, selbstor­ganisierte und dezentrale Steuerung der Produktionseinrichtungen muss sich im Rahmen ­einer koordinierenden Architektur bewegen. Eine vollständig autonome und menschenleere „Light-out-Fab“ werden CPS nicht ermöglichen. Die Fabrik der Zukunft wird also ebenso ­wenig menschenleer sein, wie das heutige Büro papierlos ist.

Anforderungen an zukünftige Arbeit

Zukünftig wird sich die Produktion noch stärker kundenindividuell und kundenauftragsorientiert entwickeln. Insbesondere am Hochlohnstandort Deutschland, dessen hochwertige Produkte eine hohe Komplex­ität und Kundenindividualität auszeichnen, wird eine Produktion nach dem 4.0-Prinzip weitgehend im Kundentakt erfolgen. Im magischen Dreieck von Zeit, Kosten und Qualität wird der Faktor Zeit weiter an Bedeutung gewinnen. Gleichzeitig dürfen die erreichten Ziele bei Kosten und Qualität nicht vernachlässigt werden. Menschliche Arbeit ist dabei unersetzlich. Im Sinne des oben geschilderten Werkzeugszenarios werden Mitarbeiter die schwer automatisierbaren, auftragsspezifischen Individualanteile der Produktion übernehmen. Die Anforderungen an die zeitliche, inhaltliche und räumliche Flexibilität der Mitarbeiter werden signifikant steigen. Starre Arbeitszeiten werden einem flexiblen Arbeiten nach Bedarf weichen müssen.

Die Bedeutung dieser Prognose unterstreicht eine aktuelle Erhebung des Fraunhofer-­Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation bei über 650 produzierenden Unternehmen [7]. Dabei beurteilen 98% der befragten Unternehmen den flexiblen Einsatz ihrer Produktionsmitarbeiter in fünf Jahren als wichtig, um im Markt zu bestehen. Und drei von vier Unternehmen stufen die Bedeutung des flexiblen Personaleinsatzes sogar als sehr wichtig ein! In der Konsequenz geben 72% der Unternehmen an, die bestehenden Möglichkeiten zum flexiblen Personaleinsatz in ihrer Produktion erweitern zu müssen. Den Handlungsdruck belegt auch die Aussage, dass 62% der Unternehmen ihren Aufwand zur kurzfristigen Steuerung und Koordination der Produktion als hoch bis sehr hoch erleben.

Selbstorganisiertes ­Arbeiten in einer Industrie 4.0

CPS werden Flexibilität und Kundenindividualität einen deutlichen Schub verleihen. Dynamische und flexible Produktions­systeme einer zukünftigen Industrie 4.0 müssen als hochinteraktive soziotechnische Systeme verstanden werden. Um den steigenden Anforderungen nach Individualität, Produktivität und Prozesskomplexität in kürzesten Durchlaufzeiten zu entsprechen, werden Menschen und vernetzte Objekte kooperativ entscheiden, wie in Abbildung 3 illustriert. Dabei finden intelligente Assistenzsysteme und menschliche Entscheidungskompetenz in mobilen Kommunikationsgeräten zueinander.

Den Einsatz von Mobilgeräten und Echtzeit-Assistenzsystemen zur Unterstützung einer hochflexiblen und kurzfristigen Personaleinsatzsteuerung untersucht das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation im Forschungsprojekt KapaflexCy. Gemeinsam mit neun weiteren Partnern wird ein CPS für eine selbstorganisierte, zeitliche Kapazitätssteuerung entwickelt. Die heute üblichen vertikalen Anweisungskaskaden „von oben nach unten“ werden ersetzt durch horizontale Entscheidungen in und zwischen Arbeitsgruppen. Teamleiter oder Schichtführer sollen nicht mehr mühsam bei allen Mitarbeitern Schichtänderungen „aushandeln“. Einfacher und schneller geht es zukünftig mit mobilen Smartphones und Social Media-Methoden. Bei Schichtänderungen erhalten alle beteiligten Mitarbeiter Einsatzanfragen. Quasi in Echtzeit entscheiden sie dann via Gruppenabstimmung, wer die Zusatzdienste erbringt. So sind die Produktionsmitarbeiter zukünftig aktiv in Entscheidungen zur Einsatzplanung eingebunden und erhöhen in Eigenverantwortung die Flexibilität des Unternehmens.

Die Vision einer Industrie 4.0 ist bereits in greifbare Nähe gerückt. Erste Fabrikanlagen implementieren CPS-Technologien. Die Mobiltechnik dringt immer weiter in die ­Fabrikhallen vor. Wie die oben genannte Befragung bestätigt, glauben bereits 52% der befragten Unternehmen, dass Produktionsmitarbeiter zukünftig mobile Kom­muni­­ka­tionstechnik im Arbeitskontext nutzen werden. Die Büroarbeit hat das Internet bereits revolutioniert. Warum soll die Vision nicht auch in der Produktion wahr werden?

Danksagung

Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „KapaflexCy“ wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmenkonzept „Forschung für die Produktion von morgen“ gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren.

Literatur
[1] acatech (Hrsg.): Cyber-Physical Systems. Innovationsmotor für Mobilität, Gesundheit, Energie und Produktion. Acatech Position 2011. http://www.acatech.de/de/publikationen/stellungnahmen/acatech/detail/artikel/cyber-physical-systems-innovationsmotor-fuer-mobilitaet-gesundheit-energie-und-produktion.html

[2] Promotorengruppe Kommunikation der Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft (Hrsg.): Bericht der Promotorengruppe Kommunikation: Im Fokus: Das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 – Handlungsempfehlungen zur Umsetzung. Berlin. 2012. Seite 14.

[3] Broy, M. (Hrsg.): Cyber-Physical Systems. Innovation durch Software-intensive eingebettete Systeme. Heidelberg: Springer, 2010.

[4] Glotzbach, U. (2009). Intelligente Objekte - klein, vernetzt, sensitiv: eine neue Technologie verändert die Gesellschaft und fordert zur Gestaltung heraus. acatech - Deutsche Akademie der Technikwissenschaften. Berlin; Heidelberg: Springer

[5] Geisberger, Eva/Broy, Manfred (Hrsg.): AgendaCPS: integrierte Forschungsagenda Cyber-Physical Systems. Berlin, Heidelberg [u.a.]. 2012. Seite 17.

[6] Windelband, L.; Spöttl, G.: Konsequenzen der Umsetzung des „Internet der Dinge“ für Facharbeit und Mensch-Maschine-Schnittstelle. In: Frequenz Newsletter 2011, Stuttgart: Fraunhofer IAO, 2011, Seite 11-12. Internet: http://www.frequenz.net/uploads/tx_freqnewsletter/frequenz_newsletter2011_web_final.pdf, Aufgerufen 07.01.2013.

[7] N.N.: Aktuelle Umfrage des Fraunhofer IAO zur Zukunft der Produktionsarbeit im Zeitraum 1.08.2012 bis 30.09.2012. Erscheinungsdatum der Studie im Frühjahr 2013. Internetquelle: http://www.produktionsarbeit.de/.

[8] N.N.: Homepage des Projekts “KapaflexCy”. Stuttgart: Fraunhofer IAO 2012. Internet: http://www.kapaflexcy.de/. Aufgerufen am 21.11.2012.

Foto: © istockphoto.com| Maxim Malevich, Erik Reis

Stichwörter:
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C&M 1 / 2013

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe C&M 1 / 2013.
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